Revolte in Nordafrika. Wie üblich, ist das verblüffendste daran, wie vertraut alles erscheint: Die jungen Männer mit prestigeträchtigem Abschluss, die im Coffee-Shop arbeiten, die Arbeitslosigkeit und die Verbitterung, die Proteste ausgelöst von der Brutalität der Polizei – denn die Polizei ist für die Arbeitslosen, was der Chef für die ArbeiterInnen ist. Diese Einzelheiten verweisen darauf, dass das, was in Ägypten passiert, keiner anderen Welt angehört, sondern ganz und gar der unseren. Es gibt keine exotischen Revolutionen in Übersee im 21. Jahrhundert. Täuschen wir uns nicht – auch wenn die Geschehnisse in Ägypten die Riots in Griechenland und die StudentInnenbewegung in England in den Schatten stellen, so entspringen sie doch der gleichen Quelle. Um allgemein über die Ereignisse auf dem Laufenden zu bleiben, empfehlen auf anarkismo.net zu lesen zu lesen. Um aber Hoffnung in diese Aufstände setzen zu können, müssen wir uns selbst als Teil von ihnen verstehen und entsprechend denken und handeln. Aus diesem Grund haben wir einen Genossen in Nordafrika um die folgende Analyse gebeten.
Die Revolution in Ägypten: Das Ende der neuen Pharaonen?
Was hier vor sich geht – zuerst in Tunesien, dann in Ägypten – ist der Beginn einer Welle umfassender Revolutionen, die unvermeidlich auf die globale Finanzkrise von 2008 folgen wird. Im Kielwasser des gescheiterten „Krieges gegen den Terror“ verbinden diese Revolutionen die latente Kraft einer riesigen Anzahl arbeitsloser Jugendlicher mit der Dynamik moderner Kommunikations-netzwerke. Sie signalisieren den Abschluss des Jahrzehnts der Konter-Revolution, das auf den 11. September 2001 folgte. Wenngleich diese Revolutionen damit fortfahren, jene neuen Technologien und dezentralen Formen der Organisierung auszuloten, die von der Anti-Globalisierungs-Bewegung eingeführt wurden, sind sie doch in Form und Ausmaß beispiellos. Weitgehend namenlose Gruppen nutzen das WorldWideWeb, um führerlose Rebellionen gegen die Pharaonen des globalen Empire des Kapitals zu entfachen.
Die selbsternannten Führer der Welt stehen in der Tat blind vor der Frage, wie sie die neuen sozialen und technologischen Kräfte verstehen sollen, die hier im Spiel sind; der alternde Diktator Mubarak ist ein perfektes Beispiel dafür, doch ist er wahrlich nicht der einzige seiner Art. Fast, dass man die Angst riechen kann, nicht nur der Despoten in China und Saudi-Arabien, sondern auch der vermeintlichen Führer repräsentativer Demokratien. Von allen Verrenkungen sind die der US-Regierung am groteskesten; es lässt die Leute in Ägypten nicht kalt, dass die Kugeln, die ihre GenossInnen niederstrecken aus den USA kommen. Ägypten erhält jährlich 1,3 Milliarden Dollar Militärhilfe von den USA. Die Unterdrückung von „Demokratie“ im Nahen Osten war und ist die wohlüberlegte politische Linie der US-Regierung; wissend, dass das Empfinden der Bevölkerung ihre Agenda der militärischen Durchsetzung des globalen Kapitalismus niemals unterstützen würde.
Doch auch die größten Anstrengungen von Mubaraks sterbenden Regime, die Sinne der Welt von den Ereignissen abzuschirmen, haben die Menschen in den Straßen von Kairo nicht zum Schweigen gebracht. Selbst das Blockieren der Mobiltelefone und der Versuch, das ganze Internet abzuschalten hat sich für den Widerstand als fruchtbar erwiesen. Seit Generationen wurden AraberInnen und AfrikanerInnen zum Schweigen gebracht, von verschiedenen kolonialen Regierungen repräsentiert und in Europa und den USA als „Primitive“ und „Terroristen“ dargestellt. Heute sprechen sich die Menschen in Ägypten in donnerndem Einklang für Freiheit aus – nicht für einen politischen Islam, wie Demagogen vom Iran bis Israel die Welt glauben machen möchten. Indem die Menschen dies tun, realisieren sie die Ideale, von denen die US-Regierung nur heuchlerische Lippenbekenntnisse ablegt.
Von Tunesien bis Ägypten sind die allgemeinen Lebensbedingungen heute von nahezu universeller Arbeitslosigkeit geprägt – insbesondere unter den jüngeren Generationen, d.h. der großen Mehrheit der Bevölkerung. Dies ist zunehmend auch in Europa und den USA der Fall. Arbeitslosigkeit ist kein Unfall, sie ist unumgängliches Ergebnis der letzten dreißig Jahre Kapitalismus. Der Kapitalismus erreichte seine inneren Grenzen Ende der 70er Jahre; heute produzieren die Fabriken aller Industriezweige stetig mehr Waren, während zunehmende Automatisierung die ArbeiterInnen immer mehr ersetzt. Die einzige Art, aus diesen Waren Profit zu schlagen ist, sich der ArbeiterInnen zu entledigen oder ihnen so gut wie gar nichts zu bezahlen. Um die sprunghaft ansteigende Zahl der Arbeitslosen zu disziplinieren und Revolten zu verhindern, führt die Polizei einen nicht enden wollenden Krieg gegen die Bevölkerung. Wir leben in einer Welt, die überschwemmt ist von billiger Scheiße – in der das menschliche Leben das billigste von allem ist.
Unter diesen Bedingungen haben die Menschen nichts mehr zu verlieren. Nichts, das heißt, nichts außer ihrer Würde – und es zeigt sich, dass sie diese nicht aufgeben werden. Es war genau dieser innere Kern der Würde, der Mohammed Bouazizi dazu führte, sich eher selbst anzuzünden als sich der Erniedrigung in Händen der Polizei gegenüberzusehen, die ihm mit der Beschlagnahme seines Obststandes die einzige Möglichkeit genommen hatte, seine Familie zu ernähren. Das Feuer, das Mohammed Bouazizi entflammte, hat sich ausgebreitet, weitergetragen von anderen Arbeitslosen, die sich selbst dadurch von elenden Bettlern in Helden der Weltgeschichte verwandeln. Die Menschen in Ägypten setzen nicht nur Polizeiautos in Brand, sie organisieren Volkskommittees, um die Polizei und anderen Müll von der Straße zu räumen, und nie wurden die Straßen von Kairo als sicherer empfunden.
Es ist nicht verwunderlich, wenn es heute zu einer Welle von Revolutionen kommen sollte. Seit den Tagen der Pharaonen und Monarchen wurde die Welt nicht mehr von einer derart sinnlosen Kraft wie dem globalen Finanzmarkt kontrolliert. Als die Kapitalisten im Lauf der letzten Jahrzehnte mehr und mehr unfähig wurden, durch industrielle Produktion Profite zu erwirtschaften, mussten sie Mittel erfinden, Profit aus erwartbaren zukünftigen Erträgen zu schlagen. Aber wie könnten Kapitalisten in einer Welt zunehmend billiger Waren und armer Konsumenten erreichen, dass die Leute weiterhin kaufen – wie könnten sie weiterhin davon profitieren? Sie mussten sich einen Weg ausdenken, wie die Konsumenten weiter kaufen können, obwohl sie mit ihren Löhnen nicht genug zum Leben verdienen: daher die Erfindung der massenhaften Verschuldung. Wenn der Verkauf realer Güter keinen Profit mehr erwirtschaften kann, müssen die Profite mit zunehmend fantastischen, künftig zu erwartenden Erträgen gemacht werden – in anderen Worten, in der Finanzwirtschaft.
Doch wie in jedem andere Kartenhaus, so können auch Schulden nicht in alle Ewigkeit aufgetürmt werden. Irgendwann möchte irgendwer sein Geld zurück – und so brach 2008 das ganze Kartenhaus unter seinem eigenen Gewicht zusammen. Die Finanzkrise signalisiert die tiefere metaphysische Krise unserer gegenwärtigen Ordnung: Der Kapitalismus erweist sich als unfähig, die realen materiellen Bedürfnisse der globalen Bevölkerung zu decken. Das hohe Ausmaß an Armut in Ägypten ist nicht einfach das Ergebnis von Mubaraks Misswirtschaft, es ist die unvermeidbare Konsequenz der Widersprüche unserer Zeit.
Den Blick hoffnungslos vernebelt von ihrer eigenen Ideologie und ihrem Mangel an Vision, können die Staatsoberhäupter nur stumm und überrascht dastehen, während die Krise immer weitergeht. Ihre lahme Hoffnung, die Finanzmärkte mit „Sparmaßnahmen“ oder „Grünem Kapitalismus“ wieder zum Laufen zu bringen, ihre Weigerung, über systemische Veränderungen nachzudenken; trotz der Tatsache, dass das System den Menschen nicht einmal Jobs oder bezahlbare Waren liefern kann – geschweige denn ein gutes Leben. Gerade so, wie es ein Zeitalter der Revolution brauchte, um das geheiligte Recht der Könige umzuwerfen, wird es neue Revolutionen brauchen, um das geheiligte Recht der Dinge zu stürzen: Die Macht des Finanzkapitals und seiner Marionettendiktatoren.
Revolutionen werden niemals von Technologien hervorgebracht, sondern von kollektiv handelnden Menschen, die ihre Beziehungen zueinander sowie zur von ihnen geteilten Welt radikal verändern. Dennoch kann die bedeutende Rolle, die das WorldWideWeb in Ägypten und Tunesien gespielt hat, nicht bestritten werden. Besonders der kybernetisch erfahrenen und weitgehend arbeitslosen Jugend ermöglichte das Netz, zu Massenmobilisierungen aufzurufen und selbst daran teilzunehmen, ohne je eines Führers zu bedürfen. Zu den Demonstrationen des 25. Januar in Ägypten wurde über die Facebook-Seite We Are All Khaled Said aufgerufen, benannt nach einem Opfer der Polizeigewalt, ähnlich dem Mord an Alexis Grigoropoulos in Griechenland. Die Seite selbst war von einem anonymen „El-Shaahed“ eingerichtet worden – was auf arabisch „Märtyrer“ bedeutet. Inzwischen mobilisiert die Jugend überall auf der Welt als „Anonymous“; in der Schlacht um Wikileaks, sowie jüngst in den Aktionen gegen die tunesische Regierung zeigte sich Anonymous als mächtige neue internationale Größe, die jenseits von Message Boards wie „4chan“ zu politischer Reife erwacht. Die Fähigkeit der DemonstrantInnen, per Handy, Twitter und Facebook mit einer großen Anzahl von Menschen zu kommunizieren und unmittelbar auf Ereignisse zu reagieren, macht frühere Formen linker und arbeitsplatzbasierter politischer Organisation im Handumdrehen obsolet, zusammen mit anderen hierarchischen Formationen, wie dem politischen Islam.
Diese revolutionäre Verwendung der sozialen Medien sollte uns nicht überraschen. In den Händen einer kleinen Elite wird teure Kommunikationstechnologie selbstverständlich zur Selbsterhöhung und für den Konsumerismus verwendet. In Händen der arbeitslosen Jugend und anderer ausgeschlossener Klassen kann diese Technik umgewidmet werden, um die Revolution zu organisieren. Das Internet ist die neue globale Fabrikhalle und wir erleben, wie sich die ersten Arbeiterräte formen – eine neue Art kollektiver Intelligenz, die es den Leuten ermöglicht, sich direkt und ohne Repräsentation zu organisieren.
Die schiere Verwirrung der globalen Kapitalisten darüber, wer „tatsächlich hinter“ dem mysteriösen Widerstand in Ägypten und Tunesien steckt, ist enthüllend. Es ist offensichtlich, wie verzweifelt die Politiker der USA sich wünschen, irgendwen zu haben, jemanden wie Mohamad ElBaradei, mit dem sie verhandeln können. Diese Revolten sind in der Form, wenn nicht im Inhalt, anarchistisch – und selbst der Inhalt wird zunehmend radikal. Die Abwesenheit jeder organisierten Gruppe oder Führer in den frühen Tagen des Protests spricht Bände: Der sich verbreitende Zugang zu Informationstechnologien hat nicht nur die alten Organisationsformen der Linken destabilisiert, sondern auch die Rechtfertigungen dafür, überhaupt eine hierarchische Regierung zu haben. Wenn Leute kommunizieren können, können sie ihr eigenes Leben organisieren. Solche horizontalen Strukturen auf ein globales Ausmaß auszudehnen scheint nicht länger unmöglich, wenngleich es noch nicht gut durchdacht wurde.
Was die Dinge für Kapitalisten und Nationalstaaten noch schlimmer macht, ist, dass der gewaltige geheime Apparat des Staates von Webseiten wie Wikileaks in all seiner Inkompetenz bloßgestellt wurde. Während Wikileaks mit der Revolution in Ägypten nichts zu tun hatte, fachten die internen Telegramme über das luxuriöse Futter, das Ben Ali seinem Haustier-Tiger zukommen ließ, während die Menschen hungern, das Feuer in Tunesien weiter an. Wikileaks produzierte Paranoia im globalen Staatsapparat selbst, insofern der Staat nicht funktionieren kann ohne unterworfene Bevölkerung, die glaubt, dass er notwendig ist und ihm das Recht gewährt, Gewalt auszuüben. Nun steht das Empire ohne Kleider da – und seine nackte korrupte Macht ist widerlich anzusehen. Es gibt einen wachsenden Konsens, dass der Staatsapparat ein archaisches Überbleibsel ist, das nicht länger Respekt verdient.
Das Regime von Mubarak hat den klassischen Fehler gemacht, die technologischen Strukturen mit den Menschen zu verwechseln, die sie benutzen, ein typischer Fehler des Silicon Valley ebenso wie einiger Theoretiker. In einem schlecht überdachten Zug blockierte das Regime alle vier ISPs des Landes und schaltete so das Internet ab. Zusätzlich wurden die Mobilfunknetze vor den großen Demonstrationen durch Unterbrechungen blockiert. Wenn dies überhaupt einen Effekt hatte, dann den, die Leute in Ägypten noch wütender zu machen. Vielleicht hat es sie sogar aus ihrer Zuschauerrolle gerissen – es ist einfacher, eine Demonstration über Internet zu verfolgen als daran teilzunehmen – und mehr und mehr Leute auf die Straße getrieben.
Die Lehre, die daraus gezogen werden kann, ist klar: Das vermeintlich dezentralisierte Internet ist ziemlich zentralisiert, und auch wenn es nützlich sein mag, so ist es doch ein Fehler, sich abhängig davon zu machen, solange es in Händen der Kapitalisten bleibt. Führer wie Mubarak aber sehen sich einer No-Win-Situation gegenüber. Lassen sie die Kommunikationstechnologien angeschaltet und in Funktion, so werden sie genutzt, um sich gegen sie zu organisieren – schalten sie sie ab, so provozieren sie einen weltweiten Aufschrei.
Wie sich organisieren ohne das Netz? Man wird von den bestehenden Institutionen ausgehen. In Ägypten bedeutete das von den Moscheen. Die „Tage des Zorns“ waren von Straßenkämpfen mit der Polizei gekennzeichnet, die weitaus intensiver waren als jene des Aufstands in Griechenland 2008; sie kulminierten im Niederbrennen des Hauptquartiers der Partei Mubaraks. Danach riefen die Protestierenden die Menschen in einem brillianten Schachzug dazu auf, sich nach dem Gebet an den Moscheen zu sammeln – wo die meisten ÄgypterInnen sich ohnehin aufhalten würden. In dieser Hinsicht dienten die Moscheen dem gleichen Zweck wie die Sozialen Zentren und besetzten Häuser im griechischen Aufstand, jedoch für einen weitaus größeren Teil der Bevölkerung.
Während die Kommunikationstechnologie in einem frühen Stadium der Organisierung von Vorteil sein kann, muss eine Bewegung stark genug werden, das Internet nicht mehr zu brauchen, sobald sie auf die Straßen zieht. In Ägypten steigerte sich die Intensität der Revolte nachdem das Internet abgeschaltet worden war.
Wenn es eine Sache gibt, in der das Internet unentbehrlich ist, dann die, die Nachrichten über den Aufruhr an anderen Orten zu verbreiten. Da die Macht des Empires zunehmend spektakulärer geworden ist, ist es verwundbarer auf dem Terrain des Spektakels. Obamas erste Reaktion auf den Aufstand war der Aufruf die „Gewalt“ zu beenden – obgleich es seine Regierung ist, die in Pakistan und Afghanistan routinemäßig Gewalt ausübt und den US-BürgerInnen das größte Gefängnissystem der Welt aufzwingt. Er und Mubarak sind nicht gegen Gewalt, doch sie scheinen sie Angst zu haben vor Bildern der Gewalt. Wenn diese Bilder sich verselbstständigen, untergraben sie die Erzählung vom Staat, der die Ordnung aufrecht erhält.
Zur gleichen Zeit ist der Staat unbedingt darauf angewiesen, dass sich die Menschen misstrauen und Angst voreinander haben. Das erklärt, warum Mubarak zur Rechtfertigung seines Durchgreifens Polizisten in Zivilkleidung losschickte, die als Plünderer posierten. Als dies fehlschlug, schaltete er das Internet ab und verweigerte den Medien den Zugang zu den Protesten, um die Bedingungen für jenes Massaker zu schaffen, das es brauchen würde, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. Doch wie es heute aussieht ist fraglich, ob die Armee bereit ist ein solches Massaker durchzuführen.
Der Aufstand, der mit dem Niederbrennen von Polizeistationen begonnen hatte, verlagerte sich in Folge auf friedliche Großdemonstrationen, in der Absicht, die Armee für ihre Sache zu gewinnen. Flugblätter, die auf den Demonstrationen zirkulierten, belegen, dass die OrganisatorInnen von Anfang an planten, die Armee gegen die Polizei in Stellung zu bringen. InsurrektionalistInnen in Europa und den USA sollten diesem cleveren strategischen Zug Beachtung schenken. Nachdem die Frontlinien der Ordnungsmacht effektiv geschlagen war, hatten die ÄgypterInnen klar verstanden, dass die einzige Kraft, die sie würde aufhalten können, die Armee ist. Statt sie direkt anzugreifen, was mit Sicherheit in einem Massaker geendet hätte, versuchten sie, die Herzen und Köpfe der Soldaten zu gewinnen. Bislang sind sie erfolgreich damit; sie zeigen, dass sie sich selbst organisieren und eine führerlose und doch disziplinierte Rebellion durchführen können, die die Straßen von Kairo zum ersten Mal seit Jahren sicher und sauber macht.
Dies entzieht der Armee jeden Grund für ihre Existenz, von einer Ausrede für ein Massaker ganz zu schweigen. Wie ein Freund es formulierte: Sobald ein Aufstand einen gewissen Punkt erreicht hat, werden Waffen unnötig. Damit eine Revolution den Staat erfolgreich stürzen kann, muss die Armee sich weigern, auf die eigenen Leute zu schießen und sich stattdessen der Revolte anschließen. In Ägypten ist die Armee zumindest so weitgehend paralysiert, dass sie nicht zu schießen beginnt; sie könnte sich den Leuten anschließen, auch wenn wahrscheinlicher ist, dass sie anstrebt, im Übergang zu einer repräsentativen Demokratie die Vermittlerrolle einzunehmen.
All dies zeigt, dass milliardenschweres Militärgerät eine Revolution nicht stoppen kann. Sobald die Dinge einen bestimmten Punkt erreichen, ist die militärische Kraft nicht länger der bestimmende Faktor. Wenn die Menschen in Ägypten unbeirrt mit der Revolte fortfahren, kann das Militär wohl kaum seine eigenen Städte bombardieren.
Doch selbst wenn eine militärische Niederlage vermieden wurde, ist wahrscheinlicher, dass der aufständische Prozess, der an den „Tagen des Zorns“ begonnen wurde, auf das Nebengleis einer repräsentativen Demokratie geschoben wird, als dass er in eine ernsthafte Kommunisierung der Gesellschaft mündet – das heißt, ins unmittelbaren Teilen der Produktion für das Überleben der Menschen. Das heißt nicht, dass man pessimistisch sein muss – schon jetzt erinnern die Nachbarschaftsversammungen und Verteidigungskommittees an nicht weniger als an die Pariser Commune. Aber Mubarak ist ein die Diktator und die Jugend Ägyptens hat von den bitteren Früchten der repräsentativen Demokratie bislang noch nicht gekostet. Vielleicht müssen sie den harten Weg gehen, um sie kennenzulernen. Und selbst wenn eine repräsentative Demokratie etabliert wird, ist das noch nicht das Ende der Geschichte – schauen wir auf die fortgesetzten Proteste in Tunesien. Es käme früher oder später unausweichlich zu einem neuen Aufstand, auch wenn bis dahin Jahre oder Jahrzehnte vergehen können.
In diesem Zusammenhang ist vielversprechend, dass sich viele junge ÄgypterInnen darüber bewusst zu sein scheinen, dass die repräsentative Demokratie ihre Bewegung nur einschränken und in einer andere Form der Sklaverei zurückführen wird. Dies zeigt sich auf vielerlei Art – zum Beispiel an der Botschaft an den selbsternannten Führer ElBaradei „Sollen wir dich einfach auf dem Handy anrufen, wenn wir die Revolution für dich gemacht haben?“ Der Aufstand zeigte zudem eine nie dagewesene Macht der in ihm agierenden Frauen, die in keine Unterwürfigkeit unter die Muslimbruderschaft mehr zurückkehren werden.
Doch kann die Besetzung des Tahir-Platzes durch die Bevölkerung nicht ewig andauern; der Moment wird kommen, wo Nahrungsmittel produziert, die Zugverbindungen reaktiviert, das Internet wieder angeschaltet werden muss. Dies sind die tatsächlichen Schlüssel zum Erfolg des Aufstands, dafür, die Rückkehr des Kapitalismus zu verhindern, und sei es unter dem Deckmantel der repräsentativen Demokratie. Es scheint, dass noch nicht begonnen wurde, Schritte in diese Richtung zu unternehmen.
Treten wir nun einen Schritt zurück und stellen uns größere Fragen. Wenn Ägypten sich von Europa und den USA nicht grundsätzlich unterscheidet, warum ist es dort nicht zu solchen Aufständen gekommen? Zunächst sollten wir nicht zu hastig an die Sache herangehen – die Dominosteine fallen bereits, in den Straßen von Jordanien, Algerien, Jemen und Mauretanien kam es zu massiven Protesten. Ein Grund dafür, dass der Aufstand sich mit solcher Kraft in der Bevölkerung entfaltet, liegt darin, dass die ägyptische Lebensform, und mit ihr jene vieler arabisch-sprachigen Länder, noch nicht vollständig durchkapitalisiert wurde. Zum Beispiel bezahlt man in vielen Fällen nur soviel, wie man „empfindet“, dass für die entsprechenden Güter bezahlt werden sollte. Feilschen dient weniger der Maximierung der Mikro-Profite, als dem Zweck, einen bezahlbaren und ethischen Preis in einem Handel zu gewährleisten. Der Warenhandel an sich ist oft weniger wichtig als die sozialen Beziehungen, die in der Ware symbolisiert werden. Die kollektive Verantwortung und Macht der Familie verknüpft Menschen über Generationen hinweg, ganz im Gegensatz zu den entfremdeten Individuen in den USA und weiten Teilen Europas. Das lebendige und öffentliche Leben auf den Straßen des Nahen Ostens ist ein natürlicher Zündstoff für einen Aufstand.
Aber lauern da nicht finstere Mächte auf ihren Moment? Es scheint unwahrscheinlich, denn die Proteste zielen viel mehr auf „Freiheit“ als auf Islam, und jene, die religiöse Gesänge anstimmen wollen, werden wenn nötig niedergebrüllt. Dies soll nicht heißen, dass die ÄgypterInnen keine Moslems sind – tatsächlich sind sie es – aber es gibt subtile Unterscheidungen. Der politische Islam ist so etwas wie die Tea-Party Ägyptens, eine hierarchische religiöse Bewegung, der vor allem die älteren und konservativen Generationen angehören; aber der Islam existiert auch in anderen Formen, verbindet soziale Beziehungen und fördert eine kollektive Ethik. Man kann das islamische Gebot Almosen zu geben auch als Ritual der Vermeidung extremen Reichtums interpretieren. „Allah“ bezeichnet nicht notwendig einen Gott des Kommandos, der Begriff kann ebenso auf das Unsagbare verweisen, auf den unsichtbaren Überschuss des Lebens, der sich einer Reduzierung verweigert und der katastrophischen Nutzbarmachung von allem unter dem Imperativ des Profits widersteht.
Es ist klar, dass in Ägypten auch ältere Strömungen als der Islam einigen Einfluss haben. Anders als in Europa oder den USA sind sich viele ÄgypterInnen ihrer Geschichte seit der Antike äußerst bewusst und empfinden eine tiefsitzende Scham über ihren derzeitigen verarmten Zustand. Die Würde und der Respekt, den sie sich inmitten des Aufstands auf den Straßen gegenseitig bekunden, bezeugt, dass diese Revolution keine abstrakte ist, sondern verwurzelt im alltäglichen Leben. Die tiefe Metaphysik dieser Lebensformen stellt die subjektiven Voraussetzungen für eine Transformation zur Verfügung.
Der Kommunismus ist älter als Marx, so wie die Anarchie älter ist als Proudhon. Das Zeitalter der Revolutionen beginnt weder mit der Pariser Commune, noch endet es mit dem Fall der Berliner Mauer. Da der Kapitalismus heute die Erde umspannt, kann die gemeinsame Zurückweisung des Kapitalismus, samt der Polizei, die ihn verteidigt, zu jener einen Sache werden, die die Welt vereint. Der Kommunismus von Marx war gefangen in der abstrakten Metaphysik der Ökonomie und vergiftet vom Missverständnis der vom Staat ausgehenden Gefahr, was die Revolutionen des frühen 20. Jahrhunderts sabotierte und zur Katastrophe des sowjetischen Staatskapitalismus führte.
Aber das Zeitalter der Revolutionen ist nicht vorbei, im Gegenteil. In einem Lied der Tuareg – „Die Erde ist unsere Mutter, wir werden sie nicht verkaufen“ – können wir den Schimmer einer Form von Kommunismus erhaschen, die dem Kapital sehr viel fremder und feindlicher gegenübersteht als irgendetwas von dem, was Lenin sich vorstellte. Viele der Rufe nach „Freiheit“ haben wenig zu tun mit der Freiheit, einen Präsidenten zu wählen oder sich Waren auf einem Markt auszusuchen, vielmehr schwingt darin das Verlangen mit nach einem Leben mit erhobenem Haupt, ohne von irgendeinem Herrscher eingeschüchtert zu werden. Dafür sind sie bereit zu sterben, sei es durch Selbstverbrennung oder zusammen auf der Straße.
Schon jetzt kann man dieser Tage eine Resonanz außerhalb des Nahen Ostens wahrnehmen, ein starkes Bedürfnis nach einem gemeinsamen revolutionären Ziel, nach etwas wahrhaft Universellem, das die Lücke zu füllen vermag, die der Kapitalismus hinterlassen hat. Die nationalistischen Fahnen der Protestierenden waren taktisch effektiv, um die Armee zu verwirren, aber sie spiegeln auch einen Mangel an Kritik am Begriffsapparat von Staat und Kapital wieder. Indes die Bedingungen für die Revolution stimmen, sind die RevolutionärInnen über die letzten dreißig Jahre im großen und Ganzen darin gescheitert, die Organisierung und Analyse zu schaffen und zu verbreiten, die notwendig ist, damit aus Aufständen genuin anti-kapitalistische Revolutionen werden. Was braucht es, damit Leute sich gewahr werden, dass ihre Nachbarschaftskommittees nicht nur ein Mittel sind, um vorübergehend die Polizei zu ersetzen, sondern ein Vorgriff auf die Abschaffung aller Polizeien in allen Ländern?
Kein Ereignis geschieht in einem Vakuum; Ereignisse entspringen konkreten Bedingungen und folglich neigen sie dazu, in Wellen aufzutreten. Die Ereignisse in Ägypten zeigen, dass das Zentrum des revolutionären Schwungs nicht länger „der Westen“ ist. Die neue Zeit der Revolution wird ihre ersten Höhepunkte in Gebieten finden, in denen die Lebensbedingungen unerträglich werden und die Lebensweisen noch nicht vollständig vom Kapital kolonisiert wurden. Dennoch wäre es ein Fehler, darin lediglich den Abschluss der unvollendeten anti-kolonialen Revolte zu sehen. Es ist etwas weitaus Größeres und Tieferes. Die Finanzkrise ist ein Zeichen dafür, dass der Kapitalismus auf dem absteigenden Ast ist. Jene Bedingungen, die die Ereignisse in Ägypten herbeiführten, sind in rasantem Tempo dabei, zur universellen Bedingung überall auf dem Globus zu werden; was einen weiteren Revolutionszyklus bedeutet und möglicherweise Krieg. Schließlich werden die gleichen Kräfte Saudi Arabien, Europa, China und letztlich sogar die USA mit der Stärke einer Flutwelle treffen.
Täuschen wir uns nicht, wir treten in eine Zeit der Revolten ein. Diese Revolten werden in ihrer konkreten Praxis den Kapitalismus zurückweisen und angreifen, selbst wenn die systematische Zerstörung früherer revolutionärer Strömungen ein Vakuum hinterlassen hat. Es bleibt zu hoffen, dass die daran teilnehmenden Menschen erkennen werden, dass Freiheit ohne die Zerstörung von Staat und Kapital unmöglich ist und eine neue Generation revolutionärer Gedanken das Konzept der Revolution für die herauf dämmernden Zeiten erneuern wird. Wir sind heute an einem Punkt, an dem allen klar werden sollte, dass wir unser Leben selbst lenken können – dass der Staat ein historisches Fossil ist, das uns zurückhält. Wie Ägypten zeigt, muss der Würgegriff von Staat und Kapital in den Straßen gebrochen werden; im Laufe der nächsten Jahrzehnte werden die Ergebnisse dieses letzten Kampfes wahrscheinlich das Schicksal der Menschheit selbst entscheiden.
All power to the people!
- Übersetzt vom Translation Collective
- Eine weitere Übersetzung von der FAU